URBANITÄT -<br>EIN FRAGILES KONZEPT

URBANITÄT -
EIN FRAGILES KONZEPT

Ein Essay von ALEXANDER GRÜNENWALD

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Bis 2030 werden 60% aller Menschen in Städten leben, bis 2050 sollen es sogar über 86% sein. Seit Jahrzehnten wird über diese weltweite, statistisch wohlfeil untermauerte Entwicklung berichtet: den vor allem ökonomisch getriebenen Trend der Zuwanderung in urbane Ballungsräume.

Die Betrachtung dieser Bewegung als Einbahnstraße hat mich dabei stets irritiert. Zeichnet sich doch bereits seit etlichen Jahren – zumindest in Europa – eine gleichzeitige Gegenbewegung ab: Fällt nicht die Suche nach einem naturnahen, gesunden Lebensumfeld, nach Selbstverwirklichung in überschaubaren, sinngeprägten Gemeinschaften viel leichter als in einer eher anonymen Großstadtgesellschaft? Die Sehnsucht nach Einfluss und Selbstbestimmung ist eine über alle Altersklassen hinweg wahrnehmbare Entwicklung. Vollzieht sich hier nicht längst ein deutlicher Wertewandel? Das zumindest bestätigt eine Umfrage von Kommunal, Europas größtem Magazin für Kommunalpolitik, aus dem Jahr 2019. Demnach wollen 44 % der Deutschen in einem Dorf, 39 % in einer Kleinstadt und nur 16 % in einer Großstadt leben. Was für ein Widerspruch von Wunsch und Wirklichkeit!

Bereits heute lässt sich darüber hinaus erahnen, welch weitreichende Folgen Ereignisse wie die Corona-Pandemie auf die aktuellen und vor allem zukünftigen Wohn- und Arbeitswelten haben.

Homeoffice- und Videokonferenz-Erfahrungen und damit verbundene Auswirkungen auf Mobilitätsansprüche und -akzeptanz werden die Hinterfragung urbaner Verdichtung noch deutlich verstärken. Gleiches gilt für die Auswirkungen des weltweiten Klimawandels oder auch die fortschreitende Digitalisierung mit Einfluss auf alle Lebensbereiche. Schon jetzt ist unverkennbar: Die Urbanität, wie sie das industrielle Zeitalter hervorgebracht hat, mit ihren liebgewonnenen ökonomischen, kulturellen und von Waren- und Menschenströmen geprägten Verdichtungen, aber auch den negativen Folgen von Anonymität, Isolation, klimatischer und psychosozialer Belastung, befindet sich im Umbruch.
In besonderer Weise sind davon die europäischen Innenstädte betroffen. Sie unterscheiden sich – wie der Architekt Peter Zlonicky 2007 sinngemäß feststellte – in ihrer kompakten Form, Nutzungsdichte und Gestalt von allen anderen Teilen der Stadt. Sie bilden häufig einen emotionalen Bezugspunkt der Stadtbürger*innen – als eine Art lebendiges Geschichtsbuch fungieren sie auch als Gewissen der Stadt.

Die in den letzten Jahrzehnten fortschreitende Globalisierung, Privatisierung und Ökonomisierung macht jedoch gerade die Innenstädte zum Spielball kommerzieller Interessen.

Steigende Bodenpreise, Investorendruck und Gentrifizierung führen zur Verdrängung ursprünglich bürgerschaftlich geprägter Nutzungsgeflechte. Stadtplanung als eine an Fürsorge und Gemeinwohl orientierte Aufgabe der Stadtpolitik trat zunehmend in einen strategiebefreiten, machtlosen Hintergrund.
Im Ergebnis hat eine europaweite Uniformierung von Innenstädten stattgefunden, überall dominieren die gleichen, global auftretenden Handelsketten. Der Attraktivitätsverlust und die Anfälligkeit solcher vom Wohnen und Kleingewerbe ausgedünnter Innenstädte war früh erkennbar. Das in den letzten Jahren durch Online-Shopping veränderte Einkaufsverhalten bringt nun auch noch die wenigen verbliebenen Laden- und Produktionsbetriebe in Schwierigkeiten, die klein- oder mittelständisch geprägt zu einem vielseitigen Angebot mit lokalen Bezügen beitragen. Mit der Corona-Pandemie wird die ganze Problematik der ihrer Nutzungsvielfalt entraubten Innenstädte noch deutlicher, unterwirft sie doch die letzten Identifikations- und Attraktionsanker, Gastronomie und Kultur, einem ruinösen Lockdown – nur sehr große Optimisten glauben, dass nach Corona alles wieder wird, wie es war. Viel eher ist zu erwarten, dass Leerstände größeren Ausmaßes die Innenstädte veröden lassen. Dieser desaströsen Entwicklung gilt es dringend entgegenzuwirken.

Alexander Grünenwald – Seine ersten Lebensjahre in einer Selbstversorgerfamilie im abgelegenen Forsthaus prägen bis heute seinen Bezug zu überschaubaren Wirkzusammenhängen in der Natur und deren Kreisläufe als Bestandteile eines größeren Ganzen, seinen Optimismus und seine Experimentierfreude. Es war kein Zufall, dass erste Architekturprojekte mit spielerisch eingesetzten Lego-Modellen in sozialen Brennpunkten erfolgten und zu fachlicher Wahrnehmung und ersten Auszeichnungen führten. Genaue Beobachtung, die Überzeugungsarbeit, Menschen befähigen zu können, kreative Entscheidungen selbst verantwortlich zu treffen, sind das Erfolgsrezept, das seine Entwurfs- und Forschungsarbeit als Architekt, Quartiers- und Wohnprojektentwickler, Berater von Kommunen und der Wohnungswirtschaft prägt, aber auch Hintergrund für seine Mitwirkung in unterschiedlichen ehrenamtlichen Funktionen. Privat ist er gerade dabei, mit seiner Büro- und Lebenspartnerin nach langem Stadt(er)leben mit einer Gruppe Gleichgesinnter mit Lust an kulturellen Vorhaben in ein umgebautes denkmalgeschütztes Schulgebäude in eine südpfälzische Kleinstadt zu ziehen.

Damit Innenstädte wieder Orte der Begegnung, des gemeinschaftlichen Wirkens und der kulturellen Betätigung und Erfahrung werden, müssen völlig neue Gebäude- und Freiraumnutzungen erprobt und muss die Bürgerschaft jenseits kommerzieller Bezüge in soziale und kulturelle Interaktion gebracht werden.

Es wird mehr denn je darauf ankommen, politisch regulierte und arrangierte Spielräume zu schaffen – nur so lassen sich Experimentierfelder für gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen schaffen.

Der Schlüssel für einen innovativen Umgang mit Planungs- und Entscheidungsprozessen liegt in einer neuen, von allen Beteiligten gewollten Kultur der bürgerschaftlichen Mitsprache. Professionell aufgesetzte partizipative Verfahren würden nach meiner Erfahrung auch entscheidend zu einem ökologischen Umsteuern beitragen und so sehr einfach bauliche und soziale Nachhaltigkeit zur Handlungsmaxime werden lassen.

Social Design hat sich als Disziplin bereits bewährt, um eine am gesellschaftlichen Miteinander orientierte umweltgerechte Gestaltung von Stadträumen und Freiflächen zu befördern.

(Innen-)Städte könnten so (wieder) zu Orten der sozialen Begegnung und gesundheitlichen Resilienz werden. Mit Nutzungskonzepten, die Vielfalt ermöglichen und auch außerhalb üblicher Geschäftszeiten attraktiv und sicher sind. Neue Formen der Arbeits-, Kommunikations- und Kooperationssphären (z. B. Co-Working-Spaces) in Innenstädten müssten traditionelle Büroeinheiten ergänzen oder auch ablösen – auf jeden Fall aber eine begehrenswerte Alternative zum Homeoffice darstellen. Eine im Sinne der Bürger betriebene Digitalisierung würde in erster Linie bei der Prozessoptimierung und effizienten Kommunikation helfen, nicht aber zur Ökonomisierung des Privaten oder gar als Ersatz für persönlichen Kontakt.
Eine große Chance sehe ich in von restriktiven Regel- und Verordnungswerken befreiten Real-Laboren – in denen zumindest zeitweise vielfach überkommene DIN-Normen, Baunutzungsverordnungen mit Dichte- und Abstandsregelungen, Landesbauordnungen, Sicherheitsstandards etc. ausgesetzt werden. Visionen braucht die Stadt – und eine neue Kultur des Experiments!